Arbeitsrecht
von Kay Uwe Erdmann

Wegeunfall oder Unfall auf dem Betriebsgelände?

Mit Urteil vom 07.04.2022 entschied das OLG Brandenburg (Az.: 12 U 26/21), dass es sich bei einem Unfall vor der Schranke zu einem Betriebsparkplatz nicht um einen Arbeitsunfall auf dem Betriebsgelände nach § 8 Abs. 1 SGB VII, sondern um einen Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGB VII handelt, für den die Haftungsprivilegierung der §§ 104, 105 SGB VII nicht gilt.

Sachverhalt

Die Klägerin begehrt Feststellung, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihr alle materiellen und immateriellen Schäden aus einem Verkehrsunfall vom 14.06.2017, der sich im Zufahrtsbereich zu einem auf dem Betriebsgelände der Arbeitgeberin befindlichen Parkplatz ereignete, zu ersetzen. Die mit dem Fahrrad fahrende Klägerin befand sich auf dem Weg zur Arbeitsstätte. Sie hatte die Verkehrsschranke zur Arbeitgeberin und Beklagten zu 1. noch nicht passiert, befand sich allerdings schon auf dem frei zugänglichen Betriebsgelände des Klinikums als ihre Arbeitskollegin und Beklagte zu 2.  – um eine Betriebsfahrt anzutreten ­– die Schranke auf dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1. passierte und es zur Kollision kam. Unstreitig haften neben der Beklagten zu 2. auch ihre Versicherung als Beklagte zu 3. und die Beklagte zu 1. aus §§ 7, 18 StVG und § 115 VVG. Die Beklagten wenden jedoch ein, dass die Haftung gem. § 105 SGB VII ausgeschlossen sei, da sich der Unfall auf dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1. ereignet habe. Das LG verurteilte die Beklagten zur Leistung und verneinte einen Haftungsausschluss nach §§ 104, 105 SGB VII mit der Begründung, dass sich der Unfall nicht im Gefahrenbereich der gemeinsamen Arbeitsstätte der Klägerin und der Beklagten zu 2. ereignet habe. Mit der eingelegten Berufung machen die Beklagten geltend, es habe sich mithin nicht das allgemeine Wegerisiko realisiert, sondern die Gefahr, die im Schrankenbereich zum Betriebsgelände dadurch begründet sei, dass einige Betriebsangehörige bei der Ausfahrt aus dem Betriebsgelände mit den Anforderungen der Schrankenregelung konfrontiert seien, andere Betriebsangehörige bei ihrer Auffahrt auf das Betriebsgelände hingegen den Vorgaben der Straßenverkehrsordnung widersprechende, unkonventionelle Anfahrtswege wählten.

Entscheidung des OLG Brandenburg

Das OLG Brandenburg hat die Berufung im Wesentlichen zurückgewiesen. Zu Recht nahm der Senat an, dass die Haftung nicht nach §§ 104, 105 SGB VII ausgeschlossen ist, da der Unfall sich nicht auf einem Betriebsweg i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB VII ereignete, sondern auf einem nach § 8 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg. Maßgeblich für die Abgrenzung des Wegeunfalls vom Betriebswegeunfall ist neben dem Ort des Unfalls, inwieweit der Unfall mit der betrieblichen Tätigkeit des Versicherten zusammenhängt und ob er Ausdruck der betrieblichen Verbindung zwischen ihm und dem Unternehmen ist. Dabei ist das Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte regelmäßig keine betriebliche Tätigkeit, denn der Weg zur Arbeitsstätte endet grundsätzlich am Betriebstor. Hingegen handelt es sich bei dem Weg auf dem Werksgelände bis zum eigentlichen Arbeitsplatz wegen des engen Zusammenhangs mit der Arbeitsleistung um eine betriebliche Tätigkeit. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Arbeitnehmer in enger Berührung mit der Arbeitsleistung anderer Arbeitnehmer des Betriebs steht und sich in der Herrschaftssphäre des Arbeitgebers aufhält und dessen Ordnungsgewalt unterliegt. Das bedeutet, dass der Betriebsweg im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen wird und nicht lediglich der versicherten Tätigkeit vorausgeht. Ein Weg ist dann als Betriebsweg anzusehen, wenn er maßgeblich durch die betriebliche Organisation geprägt ist, insbesondere indem er durch die Organisation (Werkverkehr, Einsatz eines betriebseigenen Fahrzeugs, Fahrt auf dem Werksgelände) als innerbetrieblicher bzw. innerdienstlicher Vorgang gekennzeichnet oder durch Anordnung des Arbeitgebers oder Dienstherrn zu einer entsprechenden Aufgabe erklärt worden ist.  Maßgeblich ist insbesondere, ob sich aufgrund der bestehenden betrieblichen Gefahrengemeinschaft ein betriebsbezogenes Haftungsrisiko verwirklicht. Nach diesen Grundsätzen kann ein Betriebswegeunfall auch noch dann angenommen werden, wenn er sich außerhalb der Betriebsstätte des Arbeitgebers ereignet.

  1. Ort des Unfalls
    Nach zutreffender Ansicht des Gerichts befand sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg zur Arbeitsstätte. Die Klägerin hatte die Schrankenanlage, welche das Betriebsgelände der Beklagten zu 1. von der Zufahrt zum allgemein öffentlichen Parkplatz des Klinikums trennt, noch nicht passiert. Auch wenn sich der Unfall nicht im Bereich des öffentlichen Straßenverkehrs, sondern auf dem Betriebsgelände des Klinikums ereignete, liegt dennoch kein Unfall auf dem Betriebsgelände von der Beklagten zu 1., sondern ein Wegeunfall vor. Bei dem Betriebsgelände des Klinikums handelt es sich gerade nicht um eine gemeinsame Betriebsstätte mit der Beklagten zu 1. Insbesondere greift auch nicht die Ausnahme einer ausgelagerten Betriebsstätte. Zwar handelt es sich bei dem Weg vom Unternehmen zur Arbeit auf einer ausgelagerten Arbeitsstätte um einen Betriebsweg, jedoch handelt es sich bei dem Zufahrtsbereich des Klinikums nicht um eine ausgelagerte Arbeitsstätte der Beklagten zu 1. Darüber hinaus macht die Beklagte zu 1. auch nicht geltend, dass sie irgendwelche Befugnisse hinsichtlich der Betriebszufahrt oder Verpflichtungen betreffend die Verkehrssicherung dieses Bereiches hat. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Der Parkplatz des Klinikums ist nach Durchfahren einer Schranke im Eingangsbereich weiterhin für die Öffentlichkeit allgemein zugänglich, sodass der Verkehr an der Unfallstelle auch nicht durch die betrieblichen Vorgänge bei der Beklagten zu 1. geprägt wird. Entgegen der Ansicht der Beklagten ereignete sich der Unfall also unmittelbar vor dem Betriebsgelände der Beklagten zu 1.
  2. Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit
    Der zuständige Senat hat weiterhin zutreffend festgestellt, dass der Weg der Klägerin in keinem Zusammenhang zu einer betrieblichen Tätigkeit der Beklagten zu 1. bestand. Vielmehr befand sich die Klägerin auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Die Zurücklegung des Weges zu und von einer auswärtigen Arbeitsstätte ist grundsätzlich keine betriebliche Tätigkeit, da jeder Arbeitnehmer selbst dafür zu sorgen hat, dass er zur Arbeitsstelle und von dort nach Hause kommt. Die Beklagte zu 1. macht diesbezüglich auch nicht geltend, dass hinsichtlich des konkreten Weges irgendwelche Weisungen ihrerseits gegenüber der Klägerin vorlagen.
  3. Ausdruck der betrieblichen Verbindung
    Eine andere Beurteilung ergibt sich nach Auffassung des Gerichts auch nicht aus dem Umstand, dass sich der Unfall unter Beteiligung der Beklagten zu 2. ereignet hat, die als Arbeitskollegin der Klägerin in einer betrieblichen Tätigkeit für die Beklagte zu 1. unterwegs war. Auch diesbezüglich stellt sich - so das Gericht - die Kollision am Unfallort nicht anders dar, als eine Kollision zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 2. im Bereich der sich anschließenden öffentlichen Straße, bei der gleichfalls ein betriebliches Gepräge des Geschehens nicht anzunehmen ist.  Die Klägerin steht hier jedem anderen Verkehrsteilnehmer gleich, so dass es unbillig wäre, sie gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern durch eine Beschränkung ihrer Ansprüche zu benachteiligen.

Resümee

Kernproblem ist oftmals die schwierige Frage der Abgrenzung zwischen einem Wegeunfall und einem Betriebswegeunfall. Hierfür können grundsätzlich die Abgrenzungskriterien herangezogen werden, die die Rechtsprechung bereits zur Teilnahme am allgemeinen Verkehr nach §§ 636, 637 RVO entwickelt hatte. Für die Abgrenzung ist nicht nur maßgeblich, wo sich der Unfall ereignet hat, sondern auch inwieweit der Weg mit dem Betrieb und der Tätigkeit des Versicherten zusammenhängt und ob er Ausdruck der betrieblichen Verbindung zwischen ihm und dem Unternehmen ist, derentwegen das Haftungsprivileg nach § 105 SGB VII besteht. Hierfür ist nicht allein entscheidend, ob die Örtlichkeit der Organisation des Arbeitgebers unterliegt. Allerdings reicht auch die Förderung eines betrieblichen Interesses als alleiniges Abgrenzungskriterium nicht aus. Ein Haftungsprivileg nach §§ 104, 105 SGB VII scheidet auch jedenfalls dann aus, wenn das betriebliche Verhältnis in keinem oder nur einem losen Zusammenhang zu einem Unfall steht. Zur Abgrenzung müssen die Gerichte daher eine Zusammenschau der Kriterien heranziehen, um festzustellen, ob es sich um einen Wegeunfall oder um einen Betriebswegeunfall handelt. Das Problem dieser Abgrenzungskriterien besteht mithin in deren Inhaltslosigkeit. Die hierzu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisiert nicht, wann ein Zusammenhang zwischen dem Weg und dem Betrieb oder einer betrieblichen Tätigkeit vorliegt. Das Gleiche gilt für die geforderte betriebliche Verbindung. Die konkrete Ausgestaltung dieser Kriterien fehlt völlig. Letztendlich obliegt es allein den Zivilgerichten, ob ein Wegeunfall oder ein privilegierter Betriebswegeunfall vorliegt. Dies führt weder zu Rechtssicherheit noch -klarheit in der Praxis.


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