Kündigungsfristbeginn bei Compliance-Untersuchungen
Mit dem Urteil vom 03.11.2021 bestätigte das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg die Entscheidung des Arbeitsgerichts Ulm, welches sich mit der Frage des Fristbeginns bei einer außerordentlichen Kündigung im Zusammenhang mit Compliance Untersuchungen und mit der Problematik des Hinauszögerns der Kenntnis beschäftigt hat (LAG BW, Urteil vom 03.11.2021 – Sa 7/21). Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht kamen zu dem Entschluss, dass laufende Compliance-Untersuchungen den Kündigungsfristbeginn nicht hemmen. Vielmehr sei in dem Fall von Compliance-Untersuchungen gegen eine Mehrzahl von Arbeitnehmern[1] der Kenntniszeitpunkt für jeden individuell zu bestimmen. Eine Hinauszögerung des Kenntniszeitpunkts, so das LAG, führe dazu, dass sich der Arbeitgeber die frühere Kenntnis zurechnen lassen muss.
Dem Urteil zugrundeliegender Sachverhalt
Gegen den Kläger, welcher ein langjähriger Arbeitnehmer der Beklagten war, wurden im Juli 2018 Compliance-Untersuchungen wegen des Verdachts des Verrats von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen eingeleitet, die sich später bestätigten. Im September 2018 initiierte das Compliance Analysis Office eine „Pre-Investigation“ zur Erstvalidierung der Verdachtsmomente. Informatorische Befragungen der Arbeitnehmer erfolgten im Anschluss. Da die Verdachtsmomente nicht erschüttert werden konnten, beauftragte das legal & Compliance Department der Beklagten im Oktober 2018 eine Kanzlei mit der Durchführung einer unternehmensinternen Untersuchung zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts. Das Gespräch mit dem Kläger fand am 12. November statt, in dem der Kläger verschiedene Dokumente übergab. Im Dezember 2018 führte die Beklagte eine IT-Search bei acht Arbeitnehmern, darunter auch dem Kläger, durch. In der Folgezeit wurde die Hardware bei dem Kläger ausgetauscht und die gesammelten Daten wurden ausgewertet und aufbereitet. Am 27. Juni 2019 entschied das Compliance-Team der Beklagten, die interne Durchsuchung zu unterbrechen und anders als ursprünglich geplant die bislang gefundenen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung der Beklagten aufzuarbeiten. Nachdem alle betroffenen Arbeitnehmer angehört und der Sachverhalt ausermittelt wurde, kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 27. September 2019 das Arbeitsverhältnis zu dem Kläger außerordentlich fristlos aus wichtigem Grund, hilfsweise außerordentlich fristlos unter Einhaltung einer Auslauffrist entsprechend der ordentlichen Kündigungsfrist zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
Nach Ansicht des Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg habe das Arbeitsgericht Ulm zutreffend entschieden und wies die Berufung als unbegründet zurück. Weder die außerordentliche fristlose noch die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist haben das Arbeitsverhältnis beendet. Zum einem hat nach Ansicht des Gerichts die Frist nicht erst mit Übergabe des externen Berichts zu laufen begonnen und zum anderen müsse sich die Geschäftsführung die frühere Kenntnis des Compliance-Abteilungsleiters zurechnen lassen.
Bei der Kündigungserklärungsfrist handelt es sich um einen gesetzlich konkretisierten Verwirkungstatbestand
Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann die außerordentliche fristlose Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Nach Satz 2 beginnt die Frist mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Damit wird dem Kündigenden -dem Arbeitgeber- ein enges Zeitfenster für die Kündigung auferlegt, nach dessen Ablauf die außerordentliche Kündigung wegen Fristablaufs unwirksam wird. Nach zutreffender Auffassung des LAG handelt es sich bei der Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB um einen gesetzlich konkretisierten Verwirkungstatbestand, der sowohl ein Zeitmoment als auch ein Umstandsmoment beinhaltet. In der Ausschlussfrist kommt folglich zum Ausdruck, so das Gericht, dass ein Arbeitnehmer darauf vertrauen darf, dass der Arbeitgeber bei einem Fehlverhalten im Sinne eines wichtigen Grundes innerhalb der zwei Wochen die Kündigung erklärt. Tut der Arbeitgeber dies nicht, so sei das Arbeitsverhältnis, so das Gericht weiter, auch nicht aus Sicht des Arbeitgebers derart belastet, dass eine außerordentliche Kündigung zu erfolgen hat. Die Einrichtung einer Compliance-Abteilung und deren Untersuchungen beseitige nicht das berechtigte Vertrauen des Arbeitnehmers. Der Vertrauenszeitraum verlängere sich nach der Auffassung des Gerichts auch nicht dadurch, dass der Arbeitnehmer mit Compliance-Untersuchungen rechnen musste. Im Gegenteil auch bei Vorliegen einer Verlängerung der Ermittlungsdauer durch Compliance-Untersuchungen, gilt der Verwirkungstatbestand des § 626 Abs.2 BGB, mit der Folge, dass die in Rede stehende Kündigung unwirksam war.
Hinreichend vollständige und nicht bis ins Detail ermittelte Tatsachen reichen für die Kenntnis aus
Das berechtigte Interesse des Arbeitnehmers an der Gewissheit, ob sein Fehlverhalten zum Anlass für eine außerordentliche Kündigung genommen wird, tritt dem LAG Zur Folge nur so lange hinter dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers an einer effizienten Aufklärung von Rechtsverstößen zurück, wie der Arbeitgeber im Sinne des § 626 Abs. 2 noch ermitteln durfte. Dabei reichen für eine Entscheidung über eine außerordentliche Kündigung hinreichend vollständige und nicht bis ins Detail ermittelte Tatsachen aus. Hierzu erklärt das LAG weiter, dass die Kenntnis von ersten Informationen, welche auf ein kündigungsrelevantes Verhalten schließen lassen, noch nicht für eine außerordentliche Kündigung ausreichen, außer diese ersten Informationen deuten bereits auf einen wichtigen Kündigungsgrund hin. In diesem Fall reichen die ersten Informationen der Ermittlungen aus. Dem Arbeitgeber stehe es in diesem Fall jedoch frei, weitere Ermittlungen anzustellen und insbesondere den Arbeitnehmer anzuhören, um sich eine fundierte Kenntnis der einschlägigen Tatsachen und Beweise als Entscheidungsgrundlage zu verschaffen. Nur für diesen Zeitraum sei der Fristbeginn gehemmt. Der Betroffene Arbeitnehmer müsse sich demnach nicht so lange gedulden, bis die Ermittlungen gegenüber allen anderen betroffenen Arbeitnehmern beendet wurden.
Beginn der Kündigungsfrist ist für jeden Arbeitnehmer gesondert festzustellen
Eine solche Vorgehensweise würde auch dem Sinn und Zweck des § 626 Abs. 2 BGB zu wiederlaufen, der auf jeden einzelnen Arbeitnehmer gesondert abstellt und damit seinen individual-rechtlichen Normgehalt verliere. Compliance-Untersuchungen, die sich gegen eine Mehrzahl von Arbeitnehmern richten, führen nicht zu einer Vereinheitlichung der Kündigungsfristen. Der Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB ist für jeden Arbeitnehmer gesondert festzustellen. Die Frist beginnt bereits mit den für die Kündigung relevanten Tatsachen, die wiederum für jeden Arbeitnehmer gesondert festzustellen sind. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies, dass die Frist nicht erst nach Ausermittlung aller anderen betroffenen Arbeitnehmer im September begonnen hatte, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt, weshalb die außerordentliche Kündigung wegen Fristablaufs unwirksam war.
Handlungsempfehlung
Die Entscheidung zeigt das Spannungsverhältnis, indem sich Arbeitgeber bei Compliance-Verstößen in der Regel befinden. Einerseits müssen sie jedem Verdacht von Rechtsverstößen nachgehen und den Sachverhalt umfassend aufklären und andererseits müssen sie die zweiwöchige Frist des § 626 Abs. 2 BGB einhalten, was oftmals zu einer nicht umfassenden Aufklärung des Sachverhalts führt. Das LAG hat das Spannungsverhältnis zwar erkannt, jedoch keine gerechte und praxisorientierte Lösung aufgezeigt, sodass die für beide Seiten vorliegende Unsicherheit weiter bestehen bleibt. Die Revision ist zugelassen. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG diesen Konflikt entscheidet.
[1] Im vorliegenden Beitrag wird aus Vereinfachungsgründen nur die männliche Form des Arbeitnehmers verwendet. Erfasst sind aber ausdrücklich alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrem Geschlecht.
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