Arbeitsrecht
von Kay Uwe Erdmann

Einrichtungsbezogene Impfpflicht ist verfassungskonform

Seit dem 16. März 2022 gilt in Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesens die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Das bedeutet, dass Personen die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens, der Pflege oder Betreuung tätig sind, ab dem 15.03.2022 gegen Covid-19 geimpft oder genesen sein und der jeweiligen Einrichtungs- oder Unternehmensleitung einen Nachweis darüber vorlegen müssen. Dies betrifft u.a. Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Arztpraxen, Rettungsdienste und noch weitere Einrichtungen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 27. April 2022, Az. 1 BvR 2649/21 nun entschieden, dass die Regelungen des § 20a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 IfSG verfassungskonform sind und hat in der Folge zahlreiche Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführenden wandten sich gegen die Vorschrift des § 20a IfSG, der auf den neu eingeführten § 22a IfSG verwies. Nach § 20a Abs. 2 IfSG müssen Personen, die in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens nach Abs. 1 tätig sind, der Leitung der jeweiligen Einrichtung oder des jeweiligen Unternehmens bis zum Ablauf des 15. März 2022 einen Impfnachweis nach § 22a Abs. 1 IfSG, einen Genesenennachweis nach § 22a Abs. 2 IfSG, ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie sich im ersten Schwangerschaftsdrittel befinden, oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus geimpft werden können, vorlegen. Wird der Nachweis der Personen nicht rechtzeitig vorgelegt oder wenn Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des Nachweises bestehen, hat die Leitung der Einrichtung oder des Unternehmens unverzüglich das Gesundheitsamt darüber zu benachrichtigen. Dieses kann gegenüber den Personen, die den Nachweis nicht erbringen, nach § 20 Abs. 5 Satz 3 IfSG ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot verhängen. Unter den etwa 50 Beschwerdeführern befinden sich ungeimpfte Beschäftigte von solchen Einrichtungen und Unternehmen, Ärzte, Pflegekräfte sowie Einrichtungen und Unternehmen selbst.

Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

Die Beschwerdeführenden rügen eine Verletzung ihrer Rechte u.a. aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihrer körperlichen Unversehrtheit. Dies trifft auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schütze die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht. Die Entscheidung, ob und welche medizinischen Maßnahmen in Anspruch genommen werden sollen, bleibt dem Grundrechtsträger überlassen. Das Selbstbestimmungsrecht erfasse jede Art der Entscheidung, auch die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen. Die einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfpflicht greife daher in den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Als Abwehrrecht schütze Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den Einzelnen auch vor mittelbaren Beeinträchtigungen, wie etwa wenn ein Gesetz eine nachteilige Folge an die Wahrnehmung einer grundrechtlich geschützten Freiheit knüpft, um dieser Grundrechtswahrnehmung entgegen zu wirken. Da eine Entscheidung gegen die Impfung mit nachteiligen Folgen – mit äußeren, faktischen und rechtlichen Zwängen – verbunden ist, liege hier ein solche mittelbare Beeinträchtigung, die zu einem Grundrechtseingriff führe nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vor. Personen die ungeimpft bleiben wollen stehen vor der Wahl mit einer bußgeldbewehrten Nachweisforderung und einem ebenfalls bußgeldbewerten Betretungs- oder Tätigkeitsverbot zu rechnen oder ihren ausgeübten Beruf aufzugeben. Diese Nachteile kommen einem direkten Eingriff als funktionales Äquivalent gleich.

Rechtfertigung

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist der Eingriff jedoch gerechtfertigt.

Legitimes Ziel

Der Gesetzgeber verfolgt mit der angegriffenen Vorschrift des § 20a IfSG den legitimen Zweck, vulnerable Menschen in besonderem Maße vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen. Für bestimmte – vulnerable – Personen bestehe aufgrund ihres Gesundheitszustandes und/oder ihres Alters ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder sogar tödlichen Krankheitsverlauf. Gerade bei älteren und immunsupprimierten Personen bestehe ein erhöhtes Risiko für eine Infektion, da sie auf eine Schutzimpfung weniger gut ansprechen. Da sich Betroffene weder selbst wirksam schützen noch dem Kontakt ausweichen können, weil sie auf medizinische Behandlung, Pflege, Betreuung oder auf Unterstützungsleistungen angewiesen sind, sind sie in einem besonderen Maße zu schützen.

Geeignetheit

Auch sei nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet den Gesetzeszweck zu erreichen. Aufgrund fehlender gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse über Einzelheiten der weiteren Verbreitung des Virus und über die konkrete Wirksamkeit einzelner Impfstoffe bleibt die verfassungsrechtliche Prüfung auf den damaligen gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum beschränkt. Dieser umfasste die Situation, dass sich die weitaus besorgniserregendere Delta-Variante in Deutschland ausbreitete, während die Omikron-Variante nur einen geringen Anteil ausmachte. Da die Infektionsrate auch zu Beginn des Jahres immer weiter anstieg und erst im Frühjahr ihren Höhepunkt erreichte, stellte die einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht das geeignete Mittel dar, um die Gesundheit vulnerabler Personen effektiv zu schützen. Die Einführung der Nachweispflicht fördert auch die Reduzierung des von geimpften und Genesenen potentiell ausgehenden Transmissionsrisikos, da das Virus vor allem in Innenräumen übertragen wird. Aufgrund dessen ist nur begrenzt erheblich, ob ein direkter Kontakt bestand. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in gesundheitsbezogenen Einrichtungen eine relevante Impflücke bestand, durfte der Gesetzgeber vertretbar annehmen, dass eine Impfung aller im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich tätigen Personen notwendig sei, um vulnerable Personen ausreichend zu schützen.

Erforderlichkeit

Das Bundesverfassungsgericht entschied weiterhin, dass die Nachweispflicht zum Schutz vulnerabler Menschen auch im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich sei. Es stünden keine anderen, in der Wirksamkeit eindeutig gleichen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung. Auch im Rahmen der Erforderlichkeit steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum aufgrund der Komplexität und Ungewissheit der Dynamik des Virusgeschehens zu, welche die verfassungsrechtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt. Eine Beschränkung der Nachweispflicht, die in einem direkten Kontakt zu vulnerablen Personen stehen, ist nicht gleich wirksam, da das Virus sich auch indirekt durch Aerosole verbreiten kann, ohne dass die Personen direkten Kontakt miteinander gehabt haben müssen. Auch die Einführung der Nachweispflicht bei Einrichtungen oder Unternehmen, die kaum Kontakt zu vulnerablen Personen haben, ist nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber ist nicht gehalten die Vorschrift des § 20a IfSG derart differenziert auszugestalten, dass eine Einzelfallbetrachtung erforderlich wäre. Vielmehr darf sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Typisierungsbefugnis am Regelfall orientieren. Insoweit hat der Gesetzgeber solche Einrichtungen und Unternehmen benannt, in denen typischerweise verstärkter Kontakt mit vulnerablen Menschen besteht oder ein solcher Kontakt zu erwarten ist.

Die Auferlegung der Verpflichtung sich vor Betreten der Einrichtung oder des Unternehmens auf eine Covid-19-Infektion testen zu lassen, sei nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kein gleich geeignetes Mittel. Eine Testung könne zwar in einem bestimmten Zeitfenster akute Infektionen entdecken, jedoch habe sie bei dem Kontakt mit besonders vulnerablen Personen keinen gleichwertigen Schutz wie eine Immunisierung. Gerade vor dem Hintergrund einer bewusst oder unbewusst fehlerhaften Anwendung als auch der Fehleranfälligkeit von Schnelltests gilt es zu berücksichtigen, dass die Testergebnisse keine verlässlichen Resultate liefern. Bei PCR-Tests muss der Umstand berücksichtigt werden, dass eine zeitnahe Auswertung schlicht unmöglich ist. Ungeachtet dessen stünden der zeitliche und organisatorische Aufwand sowie die Kosten in keinem Verhältnis zu dem von den Beschwerdeführenden erstrebten Ziel und würde mit einer erheblichen Belastung der Allgemeinheit einhergehen. Der ganz überwiegende Anteil der im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen Tätigen können die Kosten auch nicht selbst tragen.

Angemessenheit

Im Rahmen der Angemessenheit hat das Bundesverfassungsgericht die entgegenstehenden Grundrechtspositionen abgewogen und kam zu dem Ergebnis, dass dem Schutz der vulnerablen Personen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber den im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen tätigen Personen der Vorrang einzuräumen sei.

Gegen die Nachweispflicht spreche, dass eine Impfung im ganz extremen Ausnahmefall tödlich enden kann, auch wenn schwerwiegende Nebenwirkungen nur selten und nur von kurzer Dauer auftreten. Obwohl die Nachweispflicht keinen Impfzwang darstellt und die Entscheidung letztendlich jedem Einzelnen überlassen bleibt, müsse dennoch berücksichtigt werden, dass die im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich tätigen Personen de facto vor die Wahl gestellt werden, entweder in die Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität einzuwilligen oder ihre bislang ausgeübte  Tätigkeit aufzugeben. Hier gilt es insbesondere zu beachten, dass ein bußgeldbewehrtes Betretungs- oder Tätigkeitsverbot angeordnet werden kann.

Für die Nachweispflicht spreche jedoch, dass § 20a IfSG eine Ausnahme bei einer medizinischen Kontraindikation vorsieht und dass die Impfstoffe der fortlaufenden Überprüfung durch die ständige Impfkommission unterliegen und diese Kommission, soweit es geboten ist, angepasste Empfehlungen ausspricht. Darüber hinaus handele es sich nicht um ein unmittelbar kraft Gesetzes ergebendes Betretungs- oder Tätigkeitsverbot, sondern um eine Anordnung, die von einer ermessensgeleiteten Einzelfallentscheidung des Gesundheitsamts abhängig gemacht werde. Nicht außer Acht zu lassen sei zudem der zeitliche Vorlauf zur Erfüllung der Nachweispflichten. Bei der Abwägung stünden sich zwar die gleichen Grundrechte - das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - gegenüber, allerdings seien vulnerable Personen schützenswerter, da sie ihr Infektionsrisiko durch eine Impfung nicht selber reduzieren können. Sie sind deshalb in besonderem Maße darauf angewiesen, dass Übertragungsketten frühzeitig unterbrochen werden. Außerdem stehe ihre Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nicht zur Disposition, da sie im Rahmen ihrer Grundbedürfnisse stärker darauf angewiesen sind.

Praxishinweise:

Die einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfpflicht wird damit bis zum 31. Dezember 2022 weiter bestehen bleiben. Allenfalls kann der Gesetzgeber die Frist verkürzen oder die Nachweispflicht wieder aufheben, womit derzeit jedoch nicht zu rechnen ist. Arbeitgebern in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens ist zu raten, ungeimpfte und nicht von Covid-19 genesene Mitarbeiter derzeit nicht einzustellen. In Bezug auf die Einstellung von genesenen Mitarbeitern ist zu beachten, dass der Genesenennachweis eine maximale Gültigkeit von 90 Tagen gem. § 22a Abs. 2 Nr. 2 IfSG besitzt. Es dürfte daher nur ein befristetes Arbeitsverhältnis zu empfehlen sein. Außerdem müssen Arbeitgeber in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens weiterhin die Regelung des § 20a IfSG befolgen, wonach sie nicht geimpfte oder nicht genesene Mitarbeiter dem Gesundheitsamt melden müssen. Personen - wie etwa dem Verwaltungs- oder Reinigungspersonal -, die nicht zwingend in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens tätig sein müssen, ist ein Arbeitsplatzwechsel anzuraten, um sich der Nachweispflicht zu entziehen.


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